Freitagabend in der Bar – Leben im Hier und Jetzt (oder: Warum Montag nicht dein Feind sein muss)
Die Sonne ist längst untergegangen, das Licht in der Cocktailbar ist schummrig-gemütlich, und aus den Boxen säuselt irgendein souliger Remix von Phil Collins. Ich sitze mit meinem alten Kumpel Micha an der Theke. Micha ist 55, graue Schläfen, noch ziemlich fit, aber mit diesem Blick, den Männer bekommen, wenn sie glauben, sie müssten bald in den Ruhestand... weil das halt so sein soll.
Er rührt in seinem Negroni und seufzt. "Noch neun Jahre, dann ist’s soweit", sagt er und grinst schief. Ich guck ihn an wie ein Taxifahrer um vier Uhr früh: müde, aber neugierig.
"Was ist dann soweit?"
"Na Rente. Schluss mit Malochen. Dann beginnt das Leben."
Ich nehme einen Schluck von meinem Moscow Mule und versuche, nicht zu lachen. Nicht, weil ich ihn auslachen will. Sondern weil ich ihn so gut verstehe.
"Und was machst du dann?", frage ich. "Täglich Netflix, Golf und ein bisschen Friedhofsgartenpflege?"
Micha zuckt mit den Schultern. "Weiß nicht. Hauptsache endlich raus aus dem Hamsterrad. Ich arbeite seit ich 20 bin, Mann. Immer auf den nächsten Freitag, den nächsten Urlaub, das nächste verlängerte Wochenende hingefiebert. Wie viele Jahre hab ich eigentlich verpasst?"
Und da ist sie, die eigentliche Frage. Wie viele Freitage braucht es, bis man merkt, dass man zu viele Montage verschenkt hat?
Denn das ist das Ding: Wir leben oft wie in einer mentalen Warteschlange. Montag ist Mist, Mittwoch ist „Bergfest“, Freitag ist endlich „Feierabend für die Woche“. Und ab Mitte 50 wird’s nicht besser – dann zählt man die Jahre zur Rente wie ein Kind die Türchen am Adventskalender. Noch 7 Jahre, noch 6, oh schau, noch 5 Jahre und 11 Monate…
Aber Moment mal – was ist das eigentlich für ein Spiel? Was passiert, wenn wir die Ziellinie wirklich überqueren? Gibt’s da Applaus? Einen Pokal mit der Gravur „Rentner 1. Klasse“? Oder sitzen wir dann plötzlich da, so wie Micha es heimlich befürchtet, und denken: "Und jetzt? Noch 20 Jahre rumsitzen, bis ich das Zeitliche segne?"
Klingt nicht gerade sexy, oder?
Diese Denkweise ist gefährlich, weil sie uns aus dem Jetzt rauszieht. Sie gaukelt uns vor, dass das Leben irgendwann beginnt. Aber das ist Quatsch. Das Leben passiert jetzt – im Gespräch mit einem Freund an der Bar, im Lachen mit der Familie, beim Sonnenaufgang am Sonntagmorgen oder sogar – halt dich fest – an einem stinknormalen Dienstag um 14:15 Uhr im Büro.
Wir Männer über 50 haben ein feines Gespür für Zeit. Wir spüren, wenn uns etwas entgleitet. Aber genau deswegen ist jetzt der Moment, umzuschalten. Nicht später. Nicht "wenn ich in Rente bin".
Was tun?
Micha schaut mich an, und ich sehe, wie es in seinem Kopf rattert. „Also meinst du, ich soll die neun Jahre nicht absitzen, sondern wirklich leben?“
"Verdammt ja", sag ich. "Mach was, was dich kickt. Fang ein Hobby an, das dich überrascht. Reise nicht erst, wenn du alt und klapprig bist. Schreib dein Buch. Lerne Ukulele. Triff Leute. Lache. Weine. Sei da. Und vor allem: Warte nicht."
Er nickt. Dann hebt er sein Glas. „Auf den Montag. Vielleicht ist der ja doch nicht mein Feind.“
Und so sitzen wir zwei Halbweise in einer Bar, trinken auf die Tage, die wir nicht mehr verpassen wollen – und auf all die Montage, die vielleicht doch ganz in Ordnung sind, wenn man ihnen eine Chance gibt.
FAZIT
Das ständige Warten auf das große Glück am Wochenende oder den Ruhestand ist wie ein Leben im Dauer-Standby. Es nimmt uns das, was wir eigentlich suchen: echte Momente, echtes Erleben, echtes Jetzt. Wer nur nach dem nächsten Freitag oder der Rente lechzt, vergisst oft, dass das Leben nicht irgendwann anfängt – es passiert gerade.
Natürlich darf man sich auf freie Tage freuen. Klar. Aber die wahre Kunst ist, auch einem Montag etwas Gutes abzugewinnen. Oder einem Mittwochmorgen. Denn das Leben besteht eben nicht nur aus Highlights – sondern vor allem aus dem, was dazwischen liegt.
Also Schluss mit dem inneren Countdown. Weniger zählen, mehr fühlen. Weniger warten, mehr machen. Denn das Hier und Jetzt ist nicht das Vorspiel – es ist schon der Hauptact. Bühne frei!
Bild: Bild enthält Spuren von KI